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Wie konnte das alles passieren? Was ist falsch gelaufen bei der Prüfung auf Nebenwirkungen vor und nach der Zulassung? Wieso hat die Bundesanstalt für Arzneimittel(BfArm) auf die sich häufenden Meldungen von Nebenwirkungen nicht reagiert und das Medikament vom Markt genommen?

Es gab zu der Zeit kein effizientes Kontrollsystem!! Das System der Prüfung von Nebenwirkungen über klinische Studien von Wirkstoffen bis zum Zulassungsantrag existierte in der heutigen Form nicht. Das oben genannte Institut ist erst 1975 aus dem Bundesgesundheitsministerium herausgelöst worden. Die Herstellung und Vermarktung von Arzneimitteln war bis 1961 ein gesetzesfreier Raum. Es gab kein Arzneimittelgesetz (AMG)!! Das erste Arzneimittelgesetz wurde von Deutschland als letzter Staat der EWG 1961 auf der Grundlage der Römischen Verträge von 1957 verabschiedet. Nach diesem Gesetz wurde jedoch keine Prüfung auf Sicherheit (Pharmakovigilanz) durch das Bundesgesundheitsamt vorgeschrieben. Lediglich Arzneimittelnebenwirkungen sollten nur registriert werden. Es gab ärztliche, keine klinischen Prüfungen. Die Verantwortung hinsichtlich der Wirksamkeit lag beim Hersteller. Es wurde empfohlen, es bestand jedoch keine Pflicht, Berichte über Nebenwirkungen dem Bundesgesundheitsamt beizufügen. Als Vorsitzender der Deutschen Ärztekammer sagte Dr. Kreienberg vor dem Alsdorfer Prozess in dem Contergan-Fall wörtlich: “Ich würde es für gefährlich halten, eine verdächtige Nebenwirkung, bevor das Ausmaß ihrer Schädigung eine Relevanz hat, in den Beipackzettel hineinzubringen.”

Christian Knabe - Conterganopfer

Erst 1963 wurde, nach dem Rückzug des Arzneimittels Contergan, ein Meldebogen für einen Verdacht auf Nebenwirkungen von der Arzneimittelkommision der Deutschen Ärzteschaft(AkdÄ) vorgestellt. Das heute bekannte Herstellungs, Zulassungs- und Registrierungsverfahren mit dem Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit wurde erst 1978 in einer Neufassung des AMG von 1961 erstmals zur Pflicht gemacht. Mit dem §63b des heutigen Arzneimittelgesetzes wurde klar der Begriff Nebenwirkungen(UAW) mit seinen verschiedenen Formen definiert. Es konkretisierte den Begriff "Arzneimittel" und regelte die Anforderungen an Arzneimittel: u. a. deren Abgabe, Einfuhr und Ausfuhr. Erst jetzt wurde die Haftung der pharmazeutischen Unternehmen definiert. Das Bundesgesundheitsamt erhielt den gesetzlichen Auftrag Risiken, die bei der Anwendung von Arzneimitteln auftreten, zentral zu erfassen und auszuwerten. Dies ist heute die Aufgabe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Bevor heute ein Medikament die Zulassung auf das &Inverkehrbringen" erhält, muss der Wirkstoff in 3 klinischen Studien untersucht werden, in denen die Unbedenklichkeit und die Wirksamkeit geprüft wird. Dies muss vom Hersteller durchgeführt werden, bevor er überhaupt einen Antrag auf Zulassung stellen darf. Laut den europäischen Verordnungen VO20011/83 und VO2309/93 gibt es 3 Formen der Zulassungsprüfung auf europäischer Ebene. Einmal “national” dann “dezentral” und schließlich “zentral”. Bei dem dezentralem Zulassungsverfahren muss ein Antrag nicht ausschließ bei der nationalen Behörde gestellt werden. Es ist möglich diesen bei allen anderen Mitgliedstaaten zu stellen. Das heißt, es ist einfacher nationale Genehmigungen des Antrages zu umgehen und das Zulassungsverfahren europaweit einzuleiten. Bei dem zentralem Verfahren läuft die Prüfung ausschließlich über die europäische Kommission. Kommt es hier zu Einwänden(z.B. der Mitgliedstaaten) wird mit Hilfe von verschiedenen Ausschüssen, teilweise auch unter Einbezug des Antragstellers, entschieden. In beiden Zulassungsverfahren gibt es einen wissenschaftlichen Ausschuss, der angehört werden muss. Erst auf Grundlage seines Gutachtens kann und darf die europäische Kommission eine Zulassung erteilen. Damit ist jedoch Gott sei Dank nicht Schluss. Der Gesetzgeber fordert, dass das Medikament auch nach der Zulassung auf Nebenwirkungen überprüft wird. In einem Pharmakovigilanzsystem werden die verschiedenen Nebenwirkungen (UAW) auf europäischer sowie auf nationaler Ebene (hier: §63b AMG) vom Inhaber der Zulassung erfasst. Dies geschieht in periodischen Abständen, nicht länger als 6 Monate. Die Meldungen müssen der BfArm bzw. der European Medicines Agency weitergeleitet werden. Es besteht Anzeigepflicht!! So ist jetzt ein Instrument geschaffen worden, mit dem ein Medikament durch die nationale Zulassungsbehörde (hier BfArm) vom Markt genommen werden kann. Diesem Prinzip hat sich die Pharmaindustrie notgedrungen unterworfen. Aber wieso musste es erst zu dem Contergan-Skandal kommen bevor dieses Kontrollsystem geschaffen wurde? Wieso war der Fortschritt wichtiger als die Sicherheit? Hatten die Ärzte und Politiker in den 50igern und 60igern keine Vorstellung von möglichen Risiken, die Menschenleben bedrohen können? Waren sie so naiv?

Übrigens: Der Wirkstoff Thalimoid des Mittels Contergan kommt zurück. Jetzt als Krebsmedikament.